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Interview mit Gernoth Wührer - Die Bedeutung der Sprache für die menschliche Entwicklung

09. Februar 2021

“Die Bedeutung der Sprache für die menschliche Entwicklung kann gar nicht genug betont werden. Erst die Sprache, mit ihrer ungeheuren Flexibilität und ihrem Bedeutungsreichtum, hat uns in die Lage versetzt, uns untereinander zu verständigen.” (Harari, 2013). 

Sprache ist ein elementarer Bestandteil in der kindlichen Entwicklung. Bei sogenannten Sprachentwicklungsstörungen sind die Kommunikation, das Sprachverständnis, der Wortschatz und die Sprachbildung - oder gleich mehrere dieser Bereiche betroffen. 

Diplom-Psychologe Gernot Wührer behandelt in seiner Praxis in München unter anderem Patientinnen und Patienten mit Sprachentwicklungsstörungen. In diesem Interview berichtet er, wie Neurofeedback helfen kann. 

 

Gernot, wie ist es dazu gekommen, dass du dich mit Sprachentwicklungsstörungen beschäftigst? 

Ich kooperiere mit einer Logopädin, welche vor allem mit Kindern aus dem Autismus-Spektrum arbeitet sowie Kindern mit Migrationshintergrund, welche die deutsche Sprache oft erst im Kindergarten richtig lernen. Diese Kollegin integriert Neurofeedback schon länger zusätzlich zur Logopädie in die Behandlung ihrer Patienten. Logopädie kann für die Kinder sehr fordernd sein und ihnen viel abverlangen - besonders, wenn die Sprachstörung von Problemen der Aufmerksamkeit, Konzentration und Impulsivität begleitet wird. 

Wir erleben, dass Kinder mit Motivationsproblemen sowie Kinder aus dem Spektrum durch Neurofeedback in ihren kognitiv-emotionalen Fähigkeiten gestärkt werden. So erreichen sie auch schneller Fortschritte in der Logopädie. Die Kinder sind motivierter, konzentrierter und können in der Therapie besser mitarbeiten - in einzelnen Fällen haben Kinder durch die Kombination aus Neurofeedback und Logopädie bis zu einem Jahr weniger Therapie benötigt und auch große Entwicklungsrückstände schnell aufgeholt.  

 

Sprachentwicklungsstörungen sind ein großes Feld. Ist Neurofeedback bei allen gleichermaßen indiziert? 

In der Regel sind es die komplexen Fälle und Verläufe, bei denen wir zusätzlich  Neurofeedback empfehlen, beispielsweise wenn neben Sprachfehlern auch das Verständnis von oder das Verhältnis zu Sprache betroffen ist. Generell ist Neurofeedback aber ein Gehirntraining, das dazu beiträgt, die Flexibilität und die Leistungsfähigkeit der Kinder zu verbessern - davon können alle profitieren. 

Die Kinder in meiner Praxis sind meist im Kindergartenalter. Hier fällt eine nicht-altersgerechte Sprachentwicklung in der Regel erstmals deutlich auf, aber ich arbeite auch mit Schulkindern, Jugendlichen und Erwachsenen, besonders mit Erkrankungen des Autismus-Spektrums. Die Probleme, die ich in der Praxis beobachte, reichen von systematischen grammatikalischen Fehlern über das Fehlen komplexer Sätze bis zu Problemen mit dem Sprachinhalt. Bei Kindern mit Autismus kann es auch vorkommen, dass diese nur eingeschränkt kommunizieren, gar nicht sprechen oder nur Laute bilden können. 

 


Was kann Neurofeedback in der Therapie von Sprachentwicklungsstörungen leisten? Wie trägt es zu einer Verbesserung bei? 

Neurofeedback wirkt sich, als begleitende Therapie zur Logopädie, bei Sprachentwicklungsstörungen auf mindestens drei Arten positiv aus. 

Zunächst stärkt es die kognitiv-emotionalen Voraussetzungen und verbessert Parameter wie Aufmerksamkeit und Konzentration auf implizite und spielerische Weise. Kindern, die begleitend Neurofeedback trainieren, fallen beispielsweise die Arbeitsphasen in der Logopädie leichter. Sie können länger konzentriert arbeiten, geben nicht mehr so schnell auf und haben auch zunehmend Spaß daran, weil sie nicht nur negative Erfahrungen mit Sprachen machen, sondern in ihren Fähigkeiten zunehmend gestärkt werden. Das würde ich als unspezifische Effekte von Neurofeedback bezeichnen. 

Dazu kommen die positiven Effekte, die Neurofeedback auf den Alltag der Kinder hat. Das Familienleben beruhigt sich oft ein wenig, denn auch die Eltern bemerken schnell Verhaltensänderungen bei den Kindern - das kann von besserem Schlaf bis hin zu längerem selbstständigem Spiel und weniger Bettnässen führen. Das entlastet auch die Eltern und hebt die Lebensqualität aller Betroffenen.

Drittens hat Neurofeedback auch spezifische Effekte auf die Sprache: für mich ist es ein großer Erfolg, wenn die Kinder im Verlauf der Therapie aus eigener Motivation damit beginnen, längere Sätze zu bilden, auch von sich aus etwas erzählen oder ein Gespräch beginnen. Ich bemerke auch eine zunehmende Verbalität, einen vergrößerten Wortschatz oder differenzierte Lautbildung. Insbesondere wenn man beim Neurofeedback spezifische Elektrodenpositionierung für Sprache wählt und dort trainiert, werden solche Ergebnisse deutlich, während die anderen beiden unspezifischen Effekte sich oft auch schon in den typischen Anfangspositionen zeigen, insbesondere bei interhemisphärischem Training. 

 

Wie sind deine Erfahrungen mit Neurofeedback bei Sprachentwicklungsstörungen und welche Rückmeldungen erhältst du von Patienten und Eltern? 

Die Kinder nehmen Neurofeedback oft als eine “einfache” Therapie wahr - sie dürfen zu mir kommen und haben anders als in der Logopädie keinen expliziten Druck zu sprechen, sondern dürfen einen Film schauen und dabei ihr Gehirn trainieren - das ist ein hilfreiches Setting für Kinder, die negative Erfahrung mit Sprache gemacht haben. 

Ich bin davon überzeugt, dass diese vor allem auch von dem interdisziplinären Ansatz profitieren, wenn Neurofeedback begleitend zur Logopädie gemacht wird - und die Therapeutinnen und Therapeuten profitieren von einer besseren Anamnese und einer genauen Beobachtung. Viele Eltern, die ihre Kinder zu mir zum Neurofeedback bringen, bezahlen diese Behandlung selbst - aber sie sehen rasch Fortschritte und investieren so gerne in die Entwicklung und Sprache ihrer Kinder. Außerdem sind sie meist dankbar, dass sie eine Therapieoption gefunden haben, die ohne Medikamente und damit in der Regel auch ohne Nebenwirkungen auskommt. 

 

Was ist besonders wichtig für den Einsatz von Neurofeedback bei Sprachentwicklungsstörungen? 

Zentral ist für mich die gute und fundierte Ausbildung als Neurofeedback-Therapeut*in. Die Behandlung von Sprachentwicklungsstörungen geht weit über die Basispositionen im Neurofeedback hinaus. Oft muss die Feinjustierung von Elektrodenpositionen erfolgen und klinisch beurteilt werden, welches Symptom und welche Position zuerst behandelt werden sollen. Hierfür sollten Therapeut*innen schon Neurofeedback-Erfahrung mitbringen. Darüber hinaus ist die genaue Beobachtung der Patient*innen essenziell - insbesondere, wenn diese sich nicht verbal mitteilen können, müssen Anzeichen von Über- und Unteraktivierung schnell erkannt und die Trainingsfrequenz angepasst werden. Aus meiner Erfahrungen reagieren aber gerade junge Kinder schon in der Sitzung sehr sensibel und eindeutig auf Frequenzänderungen - für Veränderung zwischen den Sitzungen ist der Dialog mit den Eltern und anderen behandelnden Therapeutinnen und Therapeuten unerlässlich! 

 

Wem empfiehlst du die Teilnahme an deinem Webinar? Und was können deine Teilnehmerinnen und Teilnehmer erwarten? 

Insbesondere Sprachtherapeutinnen und -therapeuten, Logopädinnen und Logopäden können von dem Webinar profitieren. Ich finde es aber wichtig, auch andere Berufsgruppen anzusprechen, die vermehrt mit Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen zu tun haben, wie Ärzt*innen, Ergotherapeut*innen, Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen. Das Wissen über die Therapiemöglichkeiten kann dabei helfen, die Betroffenen und ihre Eltern besser zu beraten und die optimale Versorgung zu entwickeln. 

Ich möchte alle dazu einladen, die sich von diesem Thema angesprochen fühlen. Ich werde in dem Webinar über meine persönlichen Erfahrungen, die klinischen Hintergründe und die Einzelheiten von Neurofeedback sprechen und freue mich auf interessierte Teilnehmerinnen und Teilnehmer, Fragen und Diskussionen. 

 

Mehr über Gernot Wührer erfahren Sie in seinem Dozentenprofil.