Direkt zum Inhalt

Hirnfunktionsanalyse als Teil der Diagnostik mentaler Erkrankungen - Interview mit PhD Olga Kara

07. Oktober 2021

Das Gehirn ist ein sehr komplexes Organ und die Interaktion zwischen anatomischen und funktionellen Netzwerken des Gehirns ist ein aktuelles Thema in der Psychopathologieforschung und der therapeutischen Diskussion.
Olga Kara ist Neuropsychologin und Neurofeedback-Therapeutin mit einem ausgeprägten wissenschaftlichen Forschungshintergrund. Schon früh war Olga Kara fasziniert von den neurobiologischen und psychophysiologischen Grundlagen kognitiver Prozesse sowie von deren spezifischen Mustern bei verschiedenen psychologischen Erkrankungen. Neben Infra Low Frequency (ILF) Neurofeedback verwendet sie verschiedene Trainingsmethoden in Kombination mit Neurotechnologie, um Patienten in ihrer Praxis in Tampere, Finnland, und in ihrer Klinik in St. Petersburg, Russland, zu helfen. Darüber hinaus beteiligt sich Olga aktiv an der Entwicklung der neuesten Ansätze zur Integration der Analyse von Gehirnfunktionen in die Behandlung.

 

Olga, was verstehen wir unter Hirnfunktionsanalyse? 

 

Das Gehirn hat - wie jedes andere Organ auch - einen spezifischen anatomischen Aufbau, und wir können die Dicke der Kortikalschichten oder die Größe der Ventrikel messen oder ungewöhnliche Schwellungen feststellen. All diese Informationen sind für die Diagnose sehr wichtig. Zugleich erfüllt unser Gehirn eine enorme Anzahl verschiedener Funktionen. Es ermöglicht uns zu lesen, zu sprechen, zu laufen, die Umwelt zu spüren, uns anzupassen, zu lernen und so weiter. Dieses komplexe Verhaltensrepertoire wird von funktionellen Hirnnetzwerken ausgeführt, d. h. von Netzwerken, die aktiviert sind und zusammenarbeiten, um uns Leistung zu ermöglichen. Psychologische und psychiatrische Symptome können oft nicht mit anatomischen Abweichungen in Verbindung gebracht werden, aber wir können Probleme in der Kommunikation funktioneller Hirnnetzwerke identifizieren. Dies hilft uns, den Mangel innerhalb eines bestimmten funktionellen Gehirnnetzwerks mit dem Symptom des Patienten in Verbindung zu bringen. 

 

Wie setzen Sie die Hirnfunktionsanalyse in Ihrer Praxis ein?

 

Die Hirnfunktionsanalyse hilft mir in mehrfacher Hinsicht. Ich führe die Hirnfunktionsanalyse als Teil der Diagnostik durch, um z. B. pathologische Zustände auszuschließen, die von einem anderen Spezialisten behandelt werden sollten, oder um die Symptome meines Klienten besser zu verstehen. Ich habe festgestellt, dass die Hirnfunktionsanalyse nützlich ist, wenn Standardprotokolle den Patienten nicht zu helfen scheinen - das ist dann der Fall, wenn vielleicht eine schwerwiegende zugrundeliegende funktionelle Dysregulation des Gehirns stört. Daher verwende ich die Hirnfunktionsanalyse für die Therapieplanung, aber auch für die Überwachung der Therapieergebnisse.

 

Welche weiteren Informationen liefert die Hirnfunktionsanalyse für den Therapeuten? 

 

Beim ILF-Neurofeedback sind unsere primäre Informationsquelle die Symptome und Symptomveränderungen des Patienten. Durch den Zustand des Patienten und die Beziehungen innerhalb und zwischen den Neurofeedback-Sitzungen erhalten wir Informationen über Hyper- und Hypoerregung und können z.B. die Trainingsfrequenz anpassen. Sowohl ich als auch meine Kollegen erzielen mit diesem symptomorientierten Ansatz großartige Ergebnisse. Aber manchmal - z.B. bei Patienten mit inkonsistenten Symptomprofilen, schweren Komorbiditäten oder mit praktisch keiner Fähigkeit zur Introspektion und Selbstberichterstattung - möchte man eine zweite Informationsquelle in Betracht ziehen. Hier können Hirnfunktionsanalysen, EEG- und ERP-Aufzeichnungen von Nutzen sein. 

Therapeuten könnten diese Methode nutzen, wenn sie Bedenken hinsichtlich des Zustands ihrer Klienten haben, für die Erstellung von Hirntrainingsprotokollen, für die Überwachung des Fortschritts (insbesondere wenn die Kunden den Unterschied zwischen dem Ausgangszustand und den Veränderungen nach dem Training nicht erkennen können). In einigen Fällen, insbesondere bei Ärzten, kann diese Methode eingesetzt werden, um das Ansprechen auf ein bestimmtes Medikament vorherzusagen. Die Informationen, die man aus den Hirnfunktionen erhält, sind komplex, und man muss die Daten analysieren und dafür spezifische Kenntnisse haben. 

 

Ist die Analyse der Gehirnfunktionen notwendig, bevor man mit dem ILF-Neurofeedbacktraining beginnt? 

 

Nein, das ist nicht notwendig. ILF ist ein symptombasierter Ansatz mit klinisch validierten Standardprotokollen, die auch ohne Hirnfunktionsanalyse sehr gut funktionieren. 
Falls Ihr Klient jedoch eine unerwartete Reaktion auf ILF zeigt oder Sie Bedenken über den Fortschritt des Klienten haben, möchten Sie vielleicht eine zusätzliche Bewertung hinzufügen, um Ihre Vorstellung über den Zustand des Kunden zu untermauern, einige neurologische Anomalien auszuschließen oder dies einfach als einen evidenzbasierten Ansatz zu verwenden, der Ihnen helfen kann, die Wirksamkeit der Therapie auf den funktionellen Zustand des Gehirns zu messen. Ich würde die Hirnfunktionsanalyse denjenigen Neurofeedback-Therapeuten empfehlen, die sich für das EEG interessieren und eine weitere Informationsquelle - EEG- und ERP-bezogene Daten - neben den Symptomveränderungen zu ihrer Behandlungsbewertung hinzufügen möchten. 


Olga wird ihr Wissen auch teilen und Einblicke in die Hirnfunktionsanalyse und Neurofeedbacktherapie in einem Expertengespräch am 20. Oktober 2021 um 17 Uhr MEZ geben. Registrieren Sie sich jetzt kostenlos und erfahren Sie, wie Neurodiagnostik, EEG/ERP-Technologie und Hirnfunktionsanalyse in eine Neurofeedbackpraxis integriert werden können.